Opfer als Lösung

Im Alltagsleben Mumbais treffen strengrituale Brahmanen, westliche Hedonisten, irgendwelche Aufständische und ein paar UN-Blauhelme aufeinander. Es kommt zu einer Liebesaffäre zwischen zwei Beteiligten, kontrovers verstanden von Protagonisten der konkurrierenden Lager. Lösung: Die beiden Liebenden opfern sich, die eine für den anderen, der andere für die eine: Großes musikalisches Finale!
Regisseur Bruno Berger-Gorski verlegt Léo Delibes' exotische Oper Lakmé in die global-multikulturelle (Opern-)Realität unserer Tage, orientiert sich an Zeichen, aber versucht nicht, historische Entwicklungen zu begreifen. Das Ganze: „eine Regie-Idee" zur szenisch spektakulären Präsentation!
Aber da schaffen Claudia Casera mit famos charakterisierender heutiger indischer Kleidung in all ihren Varianten und Thomas Dörfler mit einer Ruinen-Landschaft zerstörter Kulturen - umgeben von bröckelnden Wänden mit modernden Plakaten aktueller Bollywood-Filmstars - die Imagination konkret-abstrakter (Bühnen-)Realität!
Die in Deutschland wenig gespielte Delibes-Oper aus der Zeit des kolonialistischen Weltbilds mit dem hinreißenden musikalischen Duktus durchaus impressionistischer, spätromantisch beeinflusster Musik mit ihren langen melodischen Passagen, lyrischen Melismen, spektakulären sängerischen Herausforderungen gerät im ambitionierten Trierer Opernhaus zu einem Bravourstück gesanglicher Kompetenz: Adreana Kraschewski präsentiert die geforderten Koloraturen und „innigen" Emotionen mit kontrollierter Hingabe und subtiler stimmlicher Eleganz; Andreas Wagner gibt dem Gerald mit seinem hell-variablen Tenor ambivalente Leidenschaft; Alexander Trauth verleiht dem unerbittlichen Brahmanenpriester Nilakantha die Autorität seines ausdrucksstarken Basses. Mit Claudia-Denise Beck als kokett-skeptische Vertraute Mallika, Carlos Aguirre als very british geprägter Frederic, Peter Koppelmann als hin und her gerissener Hindu, Vera Ilieva als rollentypische Gouvernante, Evelyn Czesla als attraktive Braut Ellen und Angela Pavonet als quirliger Schwester Rose agiert und singt ein vorzügliches Ensemble! Opernchor und Extrachor des Theaters Trier sind darstellerisch und stimmlich glänzend präsent.
Unter Victor Puhl benötigt das durchaus spielfreudige Philharmonische Orchester der Stadt Trier lange Zeit, um zu einem überzeugenden Gesamt-Klang zu finden; doch bleiben viele Unsauberkeiten in den Einsätzen, Missverständnisse in der Kommunikation innerhalb der Instrumentengruppen hörbar - und bisweilen scheint auch die Abstimmung zwischen Graben und Bühne verbesserungsbedürftig.
Das Trierer Premieren-Publikum ist offenkundig hoch interessiert und wohl vorbereitet - ist fixiert auf die „Ereignisse" des Blumenduetts und der Glöckchen-Arie, feiert die Protagonistinnen frenetisch, bestätigt die Regie mit zahlreichen Bravi, steigert sich zu außerordentlich lang anhaltendem Beifallssturm - nicht die Spur von Sehnsucht nach kitschiger Ausstattungsoper. Das Theater Trier lebt offensichtlich mit „seinem" Publikum!
Erwähnt werden muss allerdings die bebrillte brünette ältere Dame - Eingang B, Reihe 4 - mit ihrem smartphone: In permanenter Aktivität lichtet sie das Bühnengeschehen ab, lässt das Display ungeniert leuchten, verhält sich wie bei einer heimeligen Familienfeier. Und niemand hindert diese Person an ihrem kriminalisierten Tun, hält das störende Gehampel offensichtlich für cooles Verhalten. In anderen Häusern hätte man dieser Ignorantin ihr Gerät aus den beringten Fingern geschlagen!
Franz R. Stuke